Die Jägerallee am Schloss Hohenheim

Baumstatik und Biodiversität

1. Das Luftbild zeigt die Insellage der denkmalgeschützten Jägerallee in der Sichtachse von Schloss Hohenheim. Sie ist der südliche Teil des Achsenkreuzes, welcher die Parterregliederung ins abfallende Gelände fortsetzt. Links Versuchsweinberg, rechts ehemalige Schafswiese. Die Allee ist 15 Meter breit und 125 Meter lang und besteht aus jetzt noch 32 stehenden Hybridpappeln. Foto: L. Wessolly

Dabei wird der Wert nicht allein von seiner ausdrucksstarken Gestalt, seinem Beitrag zur CO2-Speicherung, sondern besonders auch in seiner Leistung für die Biodiversität bestimmt. Und hier ist, wie der folgende Beitrag zeigt, der zerfallende Baum besonders wertvoll. Und der tangiert immer auch extrem die Verkehrssicherungspflicht § 823 BGB.

Beispiel: die Jägerallee am Schloss Hohenheim

Somit ist auch bei den Bäumen die Akzeptanz der Ingenieurwissenschaften ein Großteil der Lösung zum Erhaltung besonders wertvoller Baumsubstanz. Denn nur, wenn man die angreifenden Kräfte und das Tragvermögen der Baumteile präzise analysiert, kann man an Grenzen gehen.

Die Gestalt eines alten, zerfallenden Baumes ist meist ausdrucksstark. Im Laufe seines langen Lebens haben sich viele Individuen angesiedelt und eine muntere Lebensgemeinschaft gebildet. Durch holzabbauende Pilze sind Hohlräume entstanden, die an klassischen Leichtbau erinnern. Im weitaus größten Teil unserer Bäume haben Specht, Fledermäuse oder mannigfaltige Käferarten noch keine Chance. Dazu braucht die Biodiversität eines: Alter und eben den klassischen Leichtbau. Der besteht aus der geschickten Kombination von Hohlstellen und Traggerüst, wie wir ihn in der Natur zuallererst bei Vögeln und in der Technik am extremsten im Flugzeugbau finden und eben bei Naturdenkmalbäumen. Hohlkonstruktionen sind bekanntlich optimierte Tragwerke. Und das meistern gerade die Bäume sogar in aktivem Handeln. Denn sie sind in der Lage, Reaktionsholz dort zu bilden, wo sie eine Überbeanspruchung spüren. So ist ihr Lebenszyklus darauf ausgerichtet, durch den permanenten Dickenzuwachs des Stammes hohl zu werden.

2. Aktueller Eindruck von der Jägerallee, Blick zum Schloss, massive Stamm- und Stammkopfschäden, Ringsicherung der wieder ausgetriebenen Kronen in zwei Ebenen mit boa 2 Tonnen Hohltauen. Zusätzlich Sicherung nicht mehr ausreichend stabiler Bäume an Nachbarpappeln mit dem gleichen Hohltau. Foto: L. Wessolly

Damit wird der alte Baum ein unverzichtbarer Bestandteil der komplexen Biodiversität, um weiteren Lebewesen Heimstatt zu werden. Als Bewohner und auch als Konsument zerfallenden Holzes. Denn ab einem bestimmten Lebensalter stagniert das Höhenwachstum. Die Folge: durch das Dickenwachstum steigt die Grundsicherheit gegen Bruchversagen kontinuierlich an und damit die "Schadenstoleranz". Somit kann auch ein extrem ausgehöhlter oder sich in Einzelsäulen auflösender Stamm sicher gegen Versagen sein. Und diese Höhlung ist der Ort vielfältigen Lebens. Die sichere Tragfähigkeit einer extremen Höhlung beziehungsweise Ausfaulung des Baumes präzise herauszufinden, leistet bei der juristisch belastbaren Ermittlung der in Zahlenwerten angegebenen Stand- und Bruchsicherheit nur der Zugversuch.

Wie unsere Lebenserwartung mit entwickelter Medizintechnik gestiegen ist, kann die Technik um den Baum der Biodiversität Hilfestellung leisten, um Baumveteranen solange wie möglich sicher zu erhalten. Unabdingbare Voraussetzung ist die präzise, baumstatische Ermittlung der Tragfähigkeiten gegenüber Brechen und Kippen. Darauf aufbauend lassen sich unter Analyse der Windleastung Bruch- und Standsicherheiten belastbar errechnen. Sodann folgen gezielte baumpflegerische Eingriffe. Das kann ein berechneter minimierter Sicherungsschnitt zur Lastreduktion gegenüber einem angreifenden Sturm, die richtige baumgerechte Kronensicherung oder sogar ein Stützwerk sein, welches die Sturm- und Gewichtsbelastung direkt in den Boden leitet und vom Stamm fernhält. Hier ist in den letzten 35 Jahren vieles geschehen und hat sich auch in den einschlägigen Regelwerken niedergeschlagen.

Beispiel Jägerallee Schloss Hohenheim

Als schönes Beispiel sei die Jägerallee Schloss Hohenheim vorgestellt. Die Jägerallee besteht aus ehemals 40 Säulenpappeln, die vom spätbarocken Württembergischen König Carl Eugen um 1780 gepflanzt wurden. Sie führt vom höherliegenden Schloss in die freie Landschaft. Ein denkmalgeschütztes Pflanzenbauwerk für den Ausdruck des monarchischen Machtanspruchs. Der König ist schon längst gegangen und er würde vielleicht weinen über den heutigen Zustand. Zum Glück: Es sind nicht mehr Säulen, sondern Hybridpappeln, nicht mehr kraftstrotzend, sondern hohl wie Buschtrommeln, Gefäße für mannigfaltiges Leben. Für die Biodiversität unserer Umwelt weitaus bedeutungsvoller als das architektonische Statement eines Monarchen.

3. Sicherung der fragilen Stammköpfe in zwei Ebenen mit 2 tonnen boa. Mit der Ringsicherung sollte ein Aufschwingen in Eigenresonanz verhindert werden. Das hat sich 19 Jahre vollumfänglich bewährt. Die 2. Ebene wurde wegen des hohen Wachstums in den Folgejahren erforderlich. Foto: L. Wessolly

4. Messung der Tragfähigkeit: Zugversuch mittels 7 (1/2000 mm) Elastometern und 2 (1/1000 Grad) Inclinometer. Resttragfähigkeit der Pappelstämme im Schnitt 10 Prozent, Abbau bis über 90 Prozent der Tragfähigkeit. Das entspricht gegenüber dem Vollstamm einer Restsubstanz an tragfähigem Holz von nur noch 5 Prozent! Aufgelöste Tragstruktur der Stämme, für eine Schalltomographie unerfassbar. Foto: L. Wessolly

Mit Baumstatik vom Baudenkmal zum biodiversen Naturdenkmal

In der nachköniglichen Zeit hat man die Pappeln dann immer wieder auf Kopf gesetzt. Also etwa 6 Meter hoch. Die nächsten Jahre nach der Kappung konnten die Bäume wegen fehlender Blattmasse keinen Dickenzuwachs generieren, während die inzwischen vorhandenen holzzersetzenden Pilze ungehindert Tragsubstanz abbauten. Ein Ende der Allee war abzusehen.

Die Folge, die Stammköpfe sind marode, die Stämme bis auf weniger als 10 Prozent Resttragfähigkeit völlig ausgehöhlt (2 cm Wandstärke bei 80 cm Durchmesser, vielfach offen). So begann im Jahr 2004, die Diskussion, sie zu fällen und neue Bäume zu pflanzen. Die einzige Alternative war eine baumstatische Analyse der Tragfähigkeiten mittels Zugversuch mit Elastometern, Inclinometern und der Berechnung der maximal von den Bäumen bei Orkanwindstärken ertragbaren Kronengrößen. Die Überlegung: mit Hilfe der größtmöglichen Krone den maximal möglichen Dickenzuwachs zu generieren. Damit sollten die Pappeln dem inneren Abbau durch holzzersetzende Pilze davon wachsen und die Allee möglichst lange erhalten bleiben. Aus dem Messergebnissen errechneten sich zur Ausnutzung des jeweils verfügbaren Tragvermögens des Stammes Kronenhöhen von vormals 6 Meter bis maximal 20 Meter. Mit dieser Strategie steuerten wir dem entgültigen Verlust entgegen. Allerdings gab es da noch ein Problem: Die eingefaulten Stammköpfe. Sie drohten auseinander zu brechen, wenn man die Stämmlinge wachsen ließ und sie verstärkten Windkräften oder Schwingungen in Eigenfrequenz ausgesetzt wären. Hier hat sich über die vergangenen 19 Jahren eine einfache boa-Ringsicherung 2 Tonnen bewährt: Selbst bei mehreren orkanartigen Stürmen ist bislang kein einziger Stammkopf auseinandergebrochen.

Dabei hatten wir übersehen, dass hier nicht gleichrangige Baumindividuen standen, sondern dominante und unterdrückte Bäume nebeneinanderstanden. Auch in den Kronen selbst gab es bevorzugte und benachteiligte Positionen. Sie entstanden durch den hohen Lichtbedarf der Pappeln. So konnten sich etliche der Stämmlinge nicht behaupten, die im Inneren der Allee positioniert waren. Aber auch sie waren in der Ringsicherung eingebunden und gefährdeten selbst abgestorben keinen Spaziergänger.

 

5. Eine der von Till Tolasch eingebrachten Käferfallen (Lufteklektor) in vier von 33 Bäumen. Foto: L. Wessolly

6. 364 Käferarten waren in der Jägerallee auf den knapp 2000 Quadratmeter der Allee entdeckt worden. Davon stehen diese 87 s.o. auf der roten Liste, da sie vom Aussterben bedroht sind. 16 hat Till Tolasch besonders hervorgehoben. Die Pappelallee ist in totaler Insellage eine Arche Noah. Würde die Allee verloren gehen, wären diese Arten am Standort für immer verschwunden. Hier stützt zwingend § 44 Naturschutzgesetz den unbedingten Erhalt der Pappeln. Foto: L. Wessolly

Ein einzigartiges Biotop wird entdeckt

Die Jägerallee steht auf dem Campus der landwirtschaftlichen Universität Stuttgart-Hohenheim. So war folgerichtig, dass sie auch Biologen anzog, die auf Käfer und Insekten spezialisiert waren. Eine erste Untersuchung im Rahmen studentischer Ausbildung erbrachte zehn Jahre nach Beginn unserer Erhaltungsmaßnahme Hinweise auf die Existenz seltener Käferarten. Die speziell Verantwortliche vom Landesbetrieb Vermögen und Bau Baden-Württemberg, Birgit Maier, gewann darauf hin für eine umfassende Untersuchung den Entomologen Till Tolasch von der Universität Hohenheim zur Erforschung der Käferfauna unter besonderer Berücksichtigung der Xylobionten (Holzbewohner). Das erstaunliche Ergebnis: Bei den üblicherweise nicht besonders wertgeschätzten Hybridpappeln ergab eine über 1,5 Jahre durchgeführte Sammlung 364 Käferarten in 3670 Individuen. 136 dieser Arten sind Xylobionte (Holzkäfer) im Sinne des Verzeichnisses der Totholzkäfer Deutschlands. Insgesamt befinden sich unter den 364 nachgewiesenen Käferarten 87 auf der Roten Liste bedrohter Arten in Baden-Württemberg und Deutschland, was einem Anteil von 23,9 Prozent entspricht. Dabei ist zu bedenken, dass für gut die Hälfte der Käferarten Baden-Württembergs bislang keine Roten Listen vorliegen. Der tatsächliche Anteil gefährdeter Arten ist also höher zu erwarten (Tollasch, T.: Die Hohenheimer Jägerallee 2020 unv.). Unter den nachgewiesenen Arten befinden sich fünf Urwaldrelikt-Arten. Im Rahmen der Untersuchung gelangen zwei Neufunde für das Land Baden-Württemberg, sowie mehrere Wiederfunde. Die Untersuchung erfolgte vom Mai 2018 bis zum August 2020. Dabei wurden nur vier Fallen in den Baumkronen verwendet. Auf die Beschädigung wertvoller Strukturen durch Entfernung von Rinden oder Öffnen von Mulmhöhlen wurde bewusst verzichtet.

Neben dem stillen Wert als ein Hort wertvoller Biodiversität, ist auch ein weiterer Wert entstanden, den der Erlebnisqualität.

Die ins offene Land führende Allee wird gut frequentiert. Besonders von Familien mit Kindern wird sie gerne aufgesucht. Die Kinder schauen neugierig in der Baumhöhlen oder klettern auf die liegengelassenen Stämme dreier Pappeln. Sie konnten einen der Stürme nicht aushalten, weil zwischen Sicherheitsuntersuchung und geplanter Rückverankerung mittels Kronensicherung an Nachbarbäumen ein Kommunikationsproblem entstanden war. Wir haben sie für die Käfer und als Anschauung, wie leistungsfähig dünne Wandstärken bei Bäumen sind, liegen gelassen.

 

7. Baumstatik an der Grenze. Stammdurchmesser 85 Zentimeter, Wandstärke des offenen Querschnitts 1,5 Zentimeter. Das sind t/R = 0,03. Resttragfähigkeit nur noch 8 Prozent gegenüber einem vollholzigen Stamm. Im Zugversuch hatten wir eine mangelnde Sicherheit ermittelt und eine Sicherung an den gegenüber stehenden Pappeln empfohlen. Diese Sicherung mit Kronensicherungen an den Nachbarpappeln war übersehen worden. Jetzt zeigt der Torso dem Spaziergänger anschaulich das Innenleben der übrigen Pappeln und wir lassen ihn auch als Bestandteil des Gesamtbiotops liegen. Foto: L. Wessolly

Fazit

Bäume sind mehr als die größten Individuen der Flora. Mit zunehmendem Alter werden sie Siedlungsraum für eine große Anzahl von Lebewesen und steigen damit im Wert weit über die Preise, die sich nach dem Koch'schen Wertermittlungverfahren ergeben würden. Folgerichtig ergab sich der längstmögliche Erhalt der aus Sicht der Biodiversität extrem wertvollen Pappelallee mit 364 Arten. Das sind doppelt so viel, wie Kovarik 1989 in Großbritannien an Pappeln gefunden hat (siehe Wessolly/Erb Handbuch der Baumstatik und Baumkontrolle 2014). In der Jägerallee leben 87 auf der Roten Liste gefährdeter Spezies. Der längstmögliche Erhalt ist nur durch den Einsatz präziser Messtechnik zur Ermittlung der Versagenskräfte möglich. Der einzige nachweislich belastbare Ansatz bietet die Elasto-Inclinomethode mit der die Versagenslasten Brechen oder Kippen genau berechnen lassen. Diese werden dann mit der am Standort auftretenden Orkanlast verglichen. Darauf aufbauend lässt sich die maximal ertragbare Kronengröße berechnen und von den Baumpflegern im Zaum halten. Hinzu kommt die gezielte Ringsicherung der Kronen gegen Ausbruch. Bei anderen Naturdenkmalen müssen zum Erhalt eventuell Stützen eingesetzt werden.

Nur so kann mit maximalem Zuwachs der tragenden Teile das Baumleben und somit das Biotop längstmöglich erhalten bleiben: Da bei der schnell wachsenden, aber schlecht abschottenden Pappel die Kronenzunahme, Zuwachs der tragfähigen Substanz und ihr Abbau in einem sehr dynamischen Verhältnis stehen, sind dort turnusmäßige Kontrollmessungen im Abstand von drei Jahren unbedingt erforderlich, zumal bei den Pappeln hier mehr als 90 Prozent der Tragfähigkeit des Stammes abgebaut sind. Das baumstatische Verfahren (Elasto/Inclinomethode) basiert inzwischen auf einem Archiv von mehr als 16. 000 haftungsbelasteten Sicherheitsgutachten bei Bäumen. Die Allee ist jetzt in erster Linie nicht mehr nur ein Baudenkmal, sondern ein unbedingt erhaltenswertes Naturdenkmal, eine Arche Noah vom Aussterben bedrohter Spezies, eine Insel im landwirtschaftlich genutzten Umfeld. Bemerkenswert dabei ist noch, dass dort die (sonst nicht hoch angesehene) Hybridpappel diesen großen Anteil zur Biodiversität leistet. Das Biotop wurde wegen der Nähe zur landwirtschaftlichen Universität zufällig gefunden. Man kann unterstellen, dass bei allen Naturdenkmalbäumen ein unentdecktes Biotop schlummert. Daraus haben wir die notwendige Konsequenz zu ziehen und beim Erhalt unbedingt den Zugversuch hinzuzuziehen und eventuell Kronensicherungen und Stützen zur Entlastung des Baumes einzusetzen. Das gebietet das Bundesnaturschutzgesetz § 44 durch ein Zerstörungsverbot von Fortpflanzungs- und Ruhestätten der besonders geschützten Arten der Roten Liste.

Literatur

1) Reike; H.P. Artenschutzrechtlice Betrachtung von Straßenbäumen an der L92 bei Fahrland-Erfassung der Pracht- und Bockkäfer, unv. Chemnitz 2019.

2) Siegbert, B. + T./Danicek, F./Kuther. R./Heimbucher, D./Boehm, P.: Fantastische Wesen am Baum, 2022 Patzer Verlag.

3) Schope, K. Linnert, L.: Habitax Methode, Workshop 36. Baumpflegetage Osnabrück 2018.

4) Tolasch, T.: Die Hohenheimer Jägerallee, Bestandsaufnahme und Bewertung der Käferfauna unter besonderer Berücksichtigung der Xylobionten, unveröffentlicht 2020.

5) Wessolly, L./Erb, M.: Handbuch der Baumstatik und Baumkontrolle, 1998, Patzer Verlag 2014.

6) Wessolly, L.: Spektakuläre Diagnosefälle, pro Baum 1/2012, S 22-29.

7) Wessolly, L.: Baumstatische Begleitung von Bäumen in der Zerfallsphase, Tagungsband der 36. Baumpflegetage Osnabrück 2018, Patzer Verlag.